Urtext-AlarmManche handeln es als Geheimtipp: Nur die Lutherbibel von 1912 oder die "Schlachter 2000" enthalten den wahren geistlichen Bibeltext! Andere verbreiten es als Verschwörungstheorie: Fast alle heutigen deutschen Bibel seien verfälscht. Im Internet kursieren Pamphlete und sogar ein Comic-Traktat darüber wurde gedruckt. Was ist dran an den Gerüchten?

Wenn jemand Alarm auslöst, will er Menschen vor Lebensgefahr warnen und Rettungsdienste herbeirufen. Ein Falschalarm aber versetzt die Leute nur in Unruhe und die Feuerwehr- oder Polizeikräfte rasen umsonst herbei. Sie werden darüber nicht erfreut sein und dem Verursacher den unnötigen Aufwand in Rechnung stellen. Was aber, wenn der Auslöser zutiefst von der Gefahr überzeugt ist?

So schrillt schon seit einigen Jahren unter deutschsprachigen Christen ein Alarm: „Unsere Bibeln haben den falschen Text! Die Urtexte wurden von Irrlehrern entstellt!“ Vor allem evangelikale Christen, die Gottes Wort besonders ernst nehmen wollen, lassen sich dadurch verunsichern. Denn es wird ihnen erklärt, dass es gute Bibeln nach dem „von Gott gegebenen und bewahrten Text“ gibt und schlechte Bibeln nach dem „ökumenischen Welteinheitstext“ (z.B. die wissenschaftliche Ausgabe des griechischen Neuen Testaments von Nestle-Aland). Es ist natürlich klar: Wenn der Urtext falsch ist, dann müssen auch die Übersetzungen falsch sein. Und dazu zählen nach Ansicht der Alarmisten die revidierte Lutherbibel von 1984, die revidierte Elberfelder Bibel, aber auch die Menge-Bibel, die Neue Genfer Übersetzung und die Neue evangelistische Übersetzung. Es sind zwar nur ein paar kämpferische Gläubige, die Krach schlagen, aber sie verunsichern viele.

Bevor ich mich mit einigen Argumenten dieser Christen auseinandersetze, will ich die Tatsachen benennen, die im Prinzip von allen Seiten, auch im evangelikalen Lager, anerkannt werden.

Unstrittige Tatsachen

Die Sache mit den Handschriften

1. Die im Neuen Testament enthaltenen Schriften gehen auf Originale zurück, die von den ersten Nachfolgern des Herrn Jesus Christus unter direkter Inspiration des Heiligen Geistes verfasst wurden, ohne dass Gott dabei ihre Persönlichkeit ausgeschaltet hatte.

2. Keine einzige der Originalschriften ist uns erhalten geblieben, aber alle wurden durch sorgfältige Abschriften tausendfach überliefert. Die Erstempfänger der Originale tauschten ihre Schriften mit anderen Gemeinden aus (siehe Kolosser 4,16). Dabei fertigten sie eigene Abschriften an. Später entstanden Abschriften von Schriftsammlungen, zuerst die der Paulusbriefe, dann die der vier Evangelien.

3. Diese Abschriften haben sich sehr schnell verbreitet. Die älteste Handschrift von einem Teil des Johannes-Evangeliums stammt zum Beispiel aus dem Jahr 125 n.Chr. Sie entstand nur wenige Jahrzehnte nach der Niederschrift des Originals und wurde in Ägypten gefunden, mehr als 1000 Kilometer von ihrem vermutlichen Entstehungsort entfernt.

4. Von keinem anderen antiken literarischen Werk besitzen wir so viele Abschriften. Bis heute wurden etwa 5800 griechische Handschriften mit Inhalten des Neuen Testaments gefunden, dazu 9000 Handschriften mit alten Übersetzungen des NT und 36.000 Zitate der Kirchenväter aus dem NT.

5. So steht uns heute, fast 2000 Jahre nach Entstehung der Originalschriften, ein riesiger Schatz von Abschriften, Übersetzungen und Zitaten aus dem Neuen Testament zur Verfügung.

6. Werden alle diese Handschriften miteinander verglichen, stellen sich selbstverständlich Unterschiede heraus. Man entdeckt Schreibfehler, Vertauschungen, Weglassungen, Zusätze, wie das so ist, wenn man Texte mit der Hand abschreibt oder diktiert bekommt. Trotzdem lautet das erstaunliche Ergebnis: 92 Prozent des neutestamentlichen Textes sind Wort für Wort sicher überliefert.

7. Durch die sorgfältige Arbeit von Textforschern können heute 95 bis 98 Prozent des Textes sicher rekonstruiert werden. Das heißt: Beim allergrößten Teil des neutestamentlichen Textes können wir also absolut sicher sein, den Wortlaut des Urtextes in Händen zu haben – so, wie er ursprünglich niedergeschrieben wurde.

Die Entstehung von gedruckten „Urtextausgaben“

Zur Zeit der Reformation war der größte Teil der heute vorliegenden griechischen Handschriften aber noch gar nicht entdeckt. Damals kannte man nur etwa 25 Handschriften, die außerdem in ganz verschiedenen und zum Teil weit entfernten Bibliotheken aufbewahrt wurden.

Die Bibel, die seit dem 7. Jahrhundert im gesamten Umfeld der katholischen Kirche verwendet wurde, war die sogenannte Vulgata. Sie bestand aus Abschriften der Übersetzung des Hieronymus aus den ihm vorliegenden Grundtexten in die lateinische Sprache.
Katholische Gelehrte hatten aber längst gemerkt, dass im Lauf der Jahrhunderte viele Überlieferungsfehler und Ungenauigkeiten in die Vulgata hineingekommen waren. So entstand das Bedürfnis, diese lateinische Übersetzung zu verbessern. Doch dazu musste man wieder auf die Grundtexte zurückgreifen, die zum Neuen Testament in griechischer Sprache vorlagen.

Damals ließ die Erfindung des Buchdruckens mit beweglichen Lettern die Zeit der von Hand angefertigten Abschriften zu Ende gehen. Denn jetzt konnte man leicht identische Kopien in größerer Stückzahl herstellen und Abschreibfehler weitestgehend ausschließen.

Schon im Jahr 1502 hatte der katholische Kardinal Ximénes einige Gelehrte der Universität Alcala in Spanien mit solch einer Arbeit zur ganzen Bibel beauftragt und im Lauf etlicher Jahre ein Vermögen dafür investiert. Am 10. Januar 1514 lag das Neue Testament in griechischer und lateinischer Sprache gedruckt vor. Es durfte aber erst veröffentlicht werden, nachdem die Druckerlaubnis vom Papst vorlag. Die kam dann auch – acht Jahre später – am 28. März 1522.

Der berühmte Gelehrte Erasmus von Rotterdam begann im September 1515 ebenfalls mit der Arbeit an einem griechisch-lateinischen Neuen Testament, um die Vulgata zu verbessern. Schon am 1. März 1516 erschien sein 1000-seitiges Werk, das auf der linken Seite seine lateinischen Kommentare enthielt und auf der rechten Seite in der linken Spalte den griechischen und in der rechten den lateinischen Text seiner verbesserten Vulgata.

Hintergrund

Warum spielt der „textus receptus“ eine so große Rolle?
Für die Textfassung des textus receptus wird häufig ein Glaubensargument angeführt: Diese Textform ist es gewesen, die zur segensreichen Reformation Martin Luthers geführt hat. Gott hat sich dadurch ausdrücklich zu diesem Text bekannt und davon soll man nicht abweichen.

Daneben gibt es aber auch noch äußere Faktoren, die mitspielen. Viele Christen, zumindest bis vor wenigen Jahren, sind durch die Lutherbibel von 1912 geprägt worden. An was man gewöhnt ist, das ist einem lieb und teuer und die Vorstellung fällt schwer, dass Gottes Wort jetzt plötzlich anders lauten soll.

Ein wichtiger Gesichtspunkt ist im englischsprachigen Raum wirksam: Die sehr weit verbreitete King-James-Bibel (auch in ihren späteren Revisionen) beruht auf dem griechischen Text des Erasmus und der Übersetzung von Willima Tyndale. Auf diese Weise ist der textus receptus in Kirche und persönlicher Frömmigkeit tief verankert. 

Der griechische Text hatte für Erasmus vor allem die Funktion, seine eigene Revision der Vulgata zu rechtfertigen. Dafür lagen ihm ganze sechs griechische Handschriften vor und nur eine davon enthielt das komplette Neue Testament. Doch damit stand der Gelehrtenwelt zum ersten Mal ein gedrucktes vollständiges Neues Testament in der Sprache zur Verfügung, in der es verfasst wurde, nämlich in Griechisch.

Die zweite, verbesserte Auflage dieses Testaments erschien 1519. Erasmus hatte inzwischen einen weiteren Codex heranziehen können und verbesserte den griechischen Text an 400 Stellen. Das betraf allerdings fast nur Druckfehler. Diese zweite Auflage diente Martin Luther 1521 als Grundlage für seine Übersetzung des Neuen Testaments ins Deutsche.

In den folgenden Jahrzehnten konnten weitere Handschriften zum Vergleich herangezogen werden, auch die Arbeit der Spanier, die inzwischen veröffentlicht worden war. Man verbesserte den Text aber nur an wenigen Stellen und wagte es nicht, den Text des Erasmus einer gründlichen Revision zu unterziehen. Seit 1633 nannte man diese Ausgaben den textus receptus, den allgemein akzeptierten Text. Erst Jahrhunderte später unterzog man den Text des Neuen Testaments aufgrund sehr vieler neuer Handschriftenfunde gründlicheren Revisionen, wie sie heute in den wissenschaftlichen Texten zur Verfügung stehen (Nestle-Aland, Byzantinischer Mehrheitstext).


Die Arbeitsweise zur Herstellung eines gedruckten „Urtextes“ vom Neuen Testament war aber damals nicht anders als heute. Die ersten Methoden zur Textforschung wurden sogar schon von Origenes (185–254 n.Chr.) entwickelt. Die Mitarbeiter des Ximénes haben ebenso danach gearbeitet wie Erasmus oder heutige Mitarbeiter des Instituts für neutestamentliche Textforschung in Münster:

  1. Sammlung und Zusammenfügung von Handschriften und Fragmenten
  2. Texte lesbar machen und lesen
  3. Textvergleich und Feststellung von Abweichungen
  4. Ermittlung der Ursachen dieser Abweichungen und damit die Identifizierung von Fehlern in den Abschriften
  5. Neue Niederschrift oder Druck des gefundenen „Urtextes“ (manche sagen lieber: Grundtextes) mit Randnotizen oder Fußnoten, die die festgestellten Unterschiede ausweisen

Glaubensstarke Behauptungen?

Die Kritiker der heutigen wissenschaftlichen Grundtextausgaben behaupten nun folgendes:

1. Der textus receptus ist kein wissenschaftlich erschlossener und wissenschaftlich beweisbarer Text, sondern ein im Glauben als von Gott gegeben und überliefert angenommener Text.

Das stimmt nicht, denn es ist nachweisbar, dass Erasmus wissenschaftlich und textkritisch gearbeitet hat. Die von Erasmus benutzten Handschriften existieren noch, sodass man seine Arbeit gut nachvollziehen kann.

Es ist nichts dagegen einzuwenden, den textus receptus im kindlich-einfältigen Vertrauen von Gott anzunehmen, denn dieser Text führt Menschen ebenso zum Heil wie die anderen Textausgaben. Die Unterschiede sind so gering, dass sie weniger als 5 Prozent des Textes ausmachen und sich zum größten Teil auf grammatische und orthografische Dinge beziehen und nirgends irgendeine Lehre des Christentums infrage stellen. Sie sind viel zu klein, als dass sie das grundsätzliche Vertrauen in die richtige Überlieferung des Neuen Testaments untergraben könnten.

Es ist aber nicht einzusehen, warum man sich mit diesem kindlich-einfältigen Vertrauen nicht zufriedengibt, sondern alle, die anders denken, verbissen bekämpft. Man unterstellt ihnen blinde Wissenschaftsgläubigkeit und spricht ihnen fast jedes geistliche Verständnis ab.

2. Wir glauben, dass Gottes Vorsehung den Gelehrten Erasmus geleitet hat, um der Gemeinde ein getreues Abbild des Urtextes zu geben.

Selbstverständlich darf man das glauben, sollte aber nicht vergessen, dass Erasmus ein Rationalist war, der viele bibelkritische Gedanken vertrat. Trotzdem war der textus receptus das beste „Abbild des Urtextes“, das damals zur Verfügung stand. Das Besondere daran war, dass man endlich wieder auf Handschriften der griechischen Sprache zurückgriff, in der das Neue Testament ursprünglich verfasst worden war.

Es ist aber nicht einzusehen, dass alle in der Folgezeit entdeckten älteren griechische Handschriften abgelehnt werden müssten. Warum diffamiert man diese Texte ohne wirklichen Grund?

3. Gott hat dafür gesorgt, dass Erasmus gerade diese Handschriften in Basel in die Hand bekam. Etwas anderes anzunehmen, wäre Unglaube gegenüber der Allmacht Gottes.

Es ist verständlich, dass man alles, was zur Entstehung des textus receptus führte, mit Gottes Vorsehung erklärt, wenn man erst einmal von diesem Text überzeugt ist.

Allerdings ist der Hinweis auf die Allmacht Gottes irreführend, denn es steht nicht infrage, ob Gott so etwas tun kann, sondern ob er es tatsächlich so und nicht anders getan hat.

4. Erasmus kam zu der von Gott geleiteten Schlussfolgerung, dass die byzantinische Überlieferung den zuverlässigen Text darstellt.

Diese Behauptung ist aus der Luft gegriffen, denn es standen ihm keine anderen Texte zur Verfügung. Genauso gut könnte man behaupten, dass Erasmus zu besseren Ergebnissen gekommen wäre, hätten ihm zum Beispiel die viel älteren Handschriften des Codex Sinaiticus und des Codex Vaticanus zur Verfügung gestanden.

Absurde Argumentation

Die Kritiker der heutigen wissenschaftlichen Grundtextausgaben versuchen nun in ihren Schriften und Pamphleten möglichst viele einfache Gläubige zu überzeugen. Ihr Ausgangspunkt ist dabei immer der textus receptus oder einfach die Lutherbibel von 1912 (neuerdings auch die „Schlachter 2000“ Übersetzung oder die „NeueLuther“ Bibel). Die meisten ihrer Leser können ja nicht Griechisch.

Dann dokumentieren sie die Textunterschiede zwischen dem „von Gott bewahrten Text“ und den „schlechten Bibeln“, müssen anschließend aber erklären, welche Irrlehren diese schlechten Bibeln damit unterstützen würden. Das heißt, einfache Leser kommen gar nicht auf solche Ideen. Die merken aber auch nicht, dass diese Kritiker gewöhnlich Behauptung mit Beweis verwechseln. Denn die angeblichen Beweise beweisen ja nicht, dass der textus receptus der von Gott bewahrte Text ist, sondern nur, dass es gewisse kleine Textunterschiede zu ihm gibt, die in Wirklichkeit an keiner Stelle auch nur eine einzige unserer Glaubenslehren in Frage stellen.

Weiter behaupten manche Kritiker:

  • Die Abschriften wurden von den Aposteln beglaubigt und überprüft. – Dagegen wäre ja nichts einzuwenden, aber im Neuen Testament gibt es für diese Behauptung keinerlei Beweis.
  • Die alexandrinischen Texte wurden durch die „satanisch inspirierten Irrtümer der Gnostiker“ bewusst verfälscht. – Auch dafür fehlt jeder Beweis. Man hätte einen Beweis, wenn man eine frühere Textvorlage vorweisen könnte, aber doch nicht einen Text, der mehr als 1000 Jahre später zusammengestellt wurde.

Nachvollziehbare Beweisführung

Wissenschaftliche Arbeiten zeichnen sich gewöhnlich dadurch aus, dass man ihre Beweise nachvollziehen kann. In den modernen wissenschaftlichen Grundtextausgaben gibt es unter jeder Seite einen ausführlichen Apparat von Fußnoten, wo genau aufgeführt wird, welche Varianten es in anderen Handschriften noch gibt. Im Text oben auf der Seite der Bibelausgabe haben sich die Herausgeber natürlich für die Variante entschieden, die ihrer Meinung nach dem Urtext am nächsten kommt. Es gibt ganze Bücher darüber, in denen die Entscheidungen zu einzelnen Bibelstellen ausführlich begründet sind.

Aber kein Bibelübersetzer ist gezwungen, der Ausgabe der Herausgeber zu folgen. Er kann unter Gebet und sorgfältigem Abwägen in jedem einzelnen Fall und im Rahmen der überhaupt möglichen Varianten seine eigene Entscheidung treffen. Weshalb soll das böse sein? – Nein, der Lärm der Kritiker ist ein falscher Alarm, denn jede neu entdeckte Handschrift wird uns dem Urtext noch näher bringen und uns im Vertrauen auf Gottes Wort sicherer machen.

Zuerst veröffentlicht in "Faszination Bibel" September bis November 2014.

Weitere Informationen in meinem Buch "Näher am Original", das soeben in zweiter aktualisierter und verbesserter Auflage bei SCM Brockhaus erschienen. Es enthält neuerdings 16 Farbtafeln, die wesentliche Aussagen deutlich belegen. 

 

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