Die Künstlerin begründete das staunenswerte Unterfangen: "Wir wollen das gesamte Alte Testament lesen. Weil der Text einfach eine Menge hergibt, weil es sich lohnt, darauf zu hören - und mehr an Begründung braucht es gar nicht." [1]

Bibel lesen - Bibel vorlesen. Zwei Unterfangen, die es in sich haben. Zunächst lesen, dann aber auch vorlesen. Lesen bedeutet, "geschriebene oder gedruckte Zeichen und Zeichengruppen einzeln und in ihrem Zusammenhang erfassen und in Sprache umsetzen".[2]

Bibel vorlesen bedeutet, den Text der Bibel verstehen und in hörbare Sprache umsetzen. Beim Bibellesen geschieht aber noch viel mehr, denn wer Bibel liest, wird durch Gott selbst belehrt, denn er liest Gottes Wort und wer die Bibel vorliest, gibt diese göttliche Unterweisung an andere Menschen weiter.

Josua 8,34f: "Dann las Josua das ganze Gesetz vor, auch die Segenszusagen und Fluchandrohungen, alles, was im Buch des Gesetzes geschrieben steht. Er ließ kein Wort von dem weg, was Mose gesagt hatte. Die ganze Gemeinde Israel hörte zu, auch die Frauen und Kinder und die Fremden, die bei ihnen lebten."

Wer im Altertum lesen konnte, tat dies grundsätzlich laut. Das hebräische Verb für lesen [ QaRa´ ] bedeutet nämlich "rufen", eigentlich "laut rufen". Selbst wenn man keine Zuhörer hatte, las man noch hörbar und bewegte die Lippen. Das hebräische Verb dafür bedeutet "murmelnd lesen" oder "halblaut lesen" [ HaGaH ].

Jos 1,8: "Dieses Buch des Gesetzes soll nicht von deinem Mund weichen, und du sollst Tag und Nacht darüber nachsinnen, damit du darauf achtest, nach alledem zu handeln, was darin geschrieben ist; denn dann wirst du auf deinen Wegen zum Ziel gelangen, und dann wirst du Erfolg haben."

Was die EÜ mit Nachsinnen wiedergibt, ist das Wort "HaGaH", murmelnd lesen. Wir können gut verstehen, dass Philippus damals den Äthiopier lesen hörte , wie es Apg 8,30 berichtet. "Philippus aber lief hinzu und hörte ihn den Propheten Jesaja lesen und sprach: Verstehst du auch, was du liest?"

Im Altertum verstand man das leise Lesen ohne Lippenbewegungen offenbar noch nicht. Augustin erzähhlt,[3] dass Ambrosius[4] diese neue, merkwürdige Gewohnheit hatte. Er berichtet: "... wenn er las, liefen seine Augen über die Blätter und sein Herz durchsuchte die Bedeutung, aber seine Stimme und seine Zunge ruhten. Oft, wenn wir dabei waren - denn es war niemand verboten hineinzukommen, und es war auch nicht Gewohnheit, jemand dabei zu helfen - sahen wir ihn so schweigend lesen und niemals anders ..." Augustin vermutet, dass Ambrosius vielleicht so schneller lesen konnte, "... obschon auch die Absicht, seine Stimme zu schonen, die gern heiser wurde, vielleicht noch mehr die Ursache des stillen Lesens war. Aber mit welcher Absicht er dies auch tat, geschah es zweifellos in einer guten."[5] 

2.1 Thoralesung

Ein wesentlicher Teil des jüdischen Gottesdienstes[6] bestand in der Vorlesung der Thora, des alttestamentlichen Gesetzes, das wir in den fünf Büchern Mose finden. Man hatte die Thora in Abschnitte eingeteilt, so dass man spätestens im Lauf von drei Jahren den ganzen Text gelesen hatte.[7]

Das Vorlesen der Thora im Gottesdienst stand prinzipiell jedermann zu. Meist lasen mehrere Männer den Abschnitt nacheinander. Es war die Sache des Synagogenvorstehers, diese Personen am Vortag zu bestimmen. Im Gottesdienst rief dann der Synagogendiener sie öffentlich auf. Der Aufgerufene trat nach vorn, öffnete die Thorarolle, blickte hinein und sprach zuerst einen Lobspruch darüber, worauf die Gemeinde mit Amen antwortete. Dann begann er mit dem Vorlesen seines Abschnitts, um nach einigen Versen dem nächsten Vorleser Platz zu machen. Das Vorlesen selbst musste ein wirkliches Lesen sein, d.h. die Stelle durfte nicht aus dem Gedächtnis gesagt werden. Außerdem musste der Leser dabei stehen und sich bemühen, seinen Abschnitt mit wohllautender Stimme vorzutragen.

Jakobus bestätigt, dass dieses Praxis überall gepflegt wurde. Apg 15,21: "Denn Mose hat von alten Zeiten her in jeder Stadt , die ihn predigen, da er an jedem Sabbat in den Synagogen gelesen wird."

Zur Zeit Jesu musste der in Hebräisch verlesene Text in die aramäische Landessprache übersetzt werden, weil nicht mehr alle Hebräisch konnten. Jeder Mann, der des Hebräischen mächtig war, durfte den verlesenen Text übersetzen. Die Übersetzung folgte frei nach jedem verlesenen Vers, d.h. der Übersetzer durfte nicht aus schriftlichen Aufzeichnungen vorlesen.

2.2 Prophetenlesung

Auf die Lesung der Thora folgte die Lesung eines Abschnitts aus den Propheten, der wahrscheinlich frei ausgesucht wurde und inhaltlich zu der Thorastelle passte. Das erfolgte nach der gleichen Prozedur: Nachdem der Leser die Rolle aus der Hand des Synagogendieners empfangen hatte, sprach er einen Lobspruch, las dann den Text und gab dem Diener die Rolle zurück.

2.3 Predigt

Nach der Textlesung wurden gewöhnlich einige Worte der Ermahnung an die Versammelten gerichtet. Das konnte der Vorleser tun oder auch ein anderer. Im Gegensatz zur Schriftlesung setzte er sich dabei vor die Versammlung. Ein schönes Beispiel dafür findet sich in Lukas 4,16ff:

Jesus kam auch nach Nazareth, wo er aufgewachsen war. Am Sabbat ging er, wie er es gewohnt war, in die Synagoge. Er stand auf, um aus der Schrift vorzulesen, und man reichte ihm die Buchrolle des Propheten Jesaja. Er rollte sie auf und las die Stelle, an der es heißt: "Der Geist des Herrn ruht auf mir, denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt mit dem Auftrag, den Armen gute Botschaft zu bringen, den Gefangenen zu verkünden, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen werden, den Unterdrückten die Freiheit zu bringen und ein Jahr der Gnade des Herrn auszurufen." Jesus rollte die Buchrolle zusammen, gab sie dem Synagogendiener zurück und setzte sich. Alle in der Synagoge sahen ihn gespannt an. Er begann zu reden. "Heute hat sich dieses Schriftwort erfüllt", sagte er zu ihnen, "Ihr seid Zeugen."

In Apostelgeschichte 13,14ff berichtet Lukas noch ein anderes Beispiel aus Antiochia in Pisidien:

Am Sabbat gingen sie dort in die Synagoge und setzten sich unter die Zuhörer. Nach der Lesung aus dem Gesetz und den Schriften der Propheten ließen die Synagogenvorsteher den Gästen sagen: "Brüder, wenn ihr ein ermutigendes Wort zu sagen habt, dann sprecht!" Da stand Paulus auf, bat mit einer Handbewegung um Ruhe und begann: "Ihr Männer aus dem Volk Israle und ihr anderen, die ihr den Glauben Israels teilt ..."

Dass Paulus hier zum Reden aufsteht hängt damit zusammen, dass er nicht lehrte, sondern ein Wort der Ermahnung an das Volk richtete. Nach rabbinischer Praxis erging die Lehre immer nur an eingeweihte Jünger im engen Kreis. Und nach den Regeln der großen Thora-Schulen geschah das Lehren immer im Sitzen. Gleichnisreden oder Schriftlesungen wurden stehend vorgetragen. Andere Anweisungen konnten im Gehen weitergegeben werden. Aber die offizielle Unterweisung geschah im Sitzen. Wir sprechen selbst heute noch vom Lehrstuhl eines Professors.

 

Auch im christlichen Gottesdienst nahm das Vorlesen der alttestamentlichen Schriften einen großen Raum ein, denn Paulus konnte in den zum großen Teil heidenchristlichen Gemeinden keine Kenntnis der Schrift voraussetzen, die nur durch häufig wiederholtes Vorlesen erreichbar war. (Nur wenige Christen konnten sich eine Abschrift des Alten Testaments leisten und persönlich lesen. Eine von Hand auf Pergament geschriebene Thorarolle kostet heute noch je nach Ausführung zwischen 20.000 und 70.000 €.) Deshalb ermahnte Paulus den Timotheus (1Tim 4,13):

"Bis ich komme, achte auf das Vorlesen, auf das Ermahnen, auf das Lehren!"

Timotheus sollte das Alte Testament vorlesen. Dazu gebrauchte er die griechische Übersetzung, die sogenannte Septuaginta, denn Griechisch verstand man fast überall im Römischen Reich. Das Neue Testament existierte zu dieser Zeit erst in wenigen Teilen, die außerdem nur einzelnen Gemeinden bekannt waren. Allerdings wurden diese Schriften sofort regelmäßig im Gottesdienst vorgelesen. Der Theologe Schlatter sagt:

"Die neutestamentlichen Schriften haben nicht erst später auch eine gottesdienstliche Verwendung gefunden, sondern wachsen von Anfang an aus dem Kultus hervor. Die Evangelien wurden dazu verfasst, um hintereinander als Ganzes der versammelten Gemeinde vorgelesen zu werden, wodurch auch ihrem Umfang das Maß gesetzt war."[8]

Allerdings las man in den Gemeinden auch andere Schriften, die man für sehr wichtig hielt, die aber dann nicht in die Sammlung des Neuen Testaments aufgenommen wurden. So berichtet zum Beispiel Dionysius, der Bischof von Korinth in einem Brief an Klemens, den Bischof der Gemeinde von Rom (diesen Klemens bezeichnete Paulus übrigens als seinen Mitkämpfer - Phil 4,3): "Wir feiern heute den heiligen Tag des Herrn und haben an demselben euren Brief verlesen, welchen wir gleich dem früheren durch Klemens uns zugesandten Schreiben stets zur Belehrung verlesen werden." Der Klemensbrief wurde auch in einigen anderen Gemeinden öffentlich vorgelesen, wie Eusebius von Cäsarea in seiner Kirchengeschichte erwähnt.

Den Christen in Kolossä schrieb der Apostel Paulus (Kol 4,16): Wenn dieser Brief (damit meinte er den Kolosserbrief) bei euch vorgelesen worden ist, dann schickt ihn nach Laodizea, damit er auch dort verlesen wird. Und lest auch den Brief, den ich nach Laodizea geschrieben habe. - Das meinte natürlich vorlesen. Das Vorlesen biblischer Texte hat nun mal eine besondere Verheißung.

Um 150 n.Chr. beschrieb Justin der Märtyrer in einer Bittschrift an den Kaiser den Ablauf eines sonntäglichen Gottesdienstes:

"An dem sogenannten Tag der Sonne findet eine allgemeine Versammlung aller in den Städten und auf dem Lande wohnenden (Christen) statt, und es werden die Erinnerungen der Apostel oder die Schriften der Propheten vorgelesen, soviel als die Zeit es gestattet. Hat dann der Vorleser aufgehört, so hält der Vorsteher (der Gemeinde) eine Ansprache, worin er zu Nachahmung dieser edlen (Wahrheiten und Vorbilder) ermahnt und anfeuert."[9]

Offenbarung 1,3: "Wie glücklich ist der, der die Worte der Weissagung liest und die, die sie hören und bewahren, was darin geschrieben steht!"

Hier ist nicht gemeint, dass da einer für sich allein liest, sondern dass der Text anderen laut vorgelesen wurde. Aber natürlich gilt die Seligpreisung auch dem, der den Text für sich liest.

Der HERR JESUS fragte seine pharisäischen Gegner und die Schriftgelehrten oft, ob sie eine bestimmte Stelle denn nicht gelesen hätten. Er hatte es offenbar getan und wusste genau Bescheid. Beispiele:

[Mt 12,3] Er aber sprach zu ihnen: Habt ihr nicht gelesen, was David tat, als ihn und die bei ihm waren hungerte?
[Mt 12,5] Oder habt ihr nicht in dem Gesetz gelesen, dass am Sabbat die Priester in dem Tempel den Sabbat entheiligen und (doch) schuldlos sind?
[Mt 19,4] Er aber antwortete und sprach: Habt ihr nicht gelesen, dass der, welcher sie schuf, sie von Anfang an (als) Mann und Frau schuf?
[Mt 21,16] Ja, habt ihr nie gelesen: "Aus dem Mund der Unmündigen und Säuglinge hast du dir Lob bereitet"?
[Mt 21,42] Jesus spricht zu ihnen: Habt ihr nie in den Schriften gelesen: "Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, dieser ist zum Eckstein geworden; von dem Herrn her ist er dies geworden, und er ist wunderbar in unseren Augen"?
[Mk 12,26] Was aber die Toten betrifft, dass sie auferweckt werden: Habt ihr nicht im Buch Moses gelesen, wie Gott beim Dornbusch zu ihm redete und sprach: "Ich bin der Gott Abrahams und der Gott Isaaks und der Gott Jakobs"?

Lesen bedeutet also auch verstehen. Werner de Boor schreibt in seinem Vorwort zur Erklärung der Briefe des Paulus an die Philipper und an die Kolosser:

Der große Lehrer der Kirche, Prof. D. Adolf Schlatter, hat es seinen Studenten immer wieder gesagt: "Meine Herren, Sie können nicht lesen!" Natürlich konnten die Studenten "lesen", sogar ganz leidlich ihr griechisches Neues Testament. Schlatter aber verstand unter "Lesen" jene offene und selbstlose Hinwendung zu einem Text mit der ich treu und genau aufnehme, was der Text wirklich sagt, und alle die eigenen, gewohnten und lieben Gedankengänge zurückstelle, die sich sofort in mein Erfassen des Textes eindrängen oder einschleichen wollen. Welch ernste Mühe, welch tapfrer Kampf gehört zu solchem echten "Lesen"! Wie selbstverständlich sehen ganze Kirchen und Gemeinschaften biblische Abschnitte sofort und ausschließlich im Licht ihrer gewohnten Dogmatik und merken überhaupt nicht mehr, dass die Schrift selbst hier etwas ganz anderes meint und sagt ... Man kann in manchen lieben, gläubigen Kreisen die Bibel aufschlagen, wo man will: Was da tatsächlich geschrieben steht, interessiert gar nicht und wird gar nicht aufgenommen, sondern man redet rasch wieder von den immer gleichen Wahrheiten, die in diesen Kreisen besondere Geltung haben. Dadurch bleiben wir arm und oft genug auch schief gewachsen und lassen uns die ganze Tiefe des Reichtums entgehen, den Gott in seinem Wort für uns bereitet hat.

Verständlich lesen kann nur der, der den Text verstanden hat. Wer den Sinn eines Satzes nicht vorher erfasst, kann ihn nicht richtig vorlesen. Er wird den Text entstellen, wird Pausen an den unmöglichsten Stellen machen, er wird die Wörter falsch betonen und unter Umständen sogar bei einzelnen Begriffen stolpern. Darum: Man versetzte sich in den Text hinein als ob man ihn selbst erleben würde, man fühle mit den handelnden Personen, man ahne die Absicht des Verfassers. Verständlich lesen heißt also nicht nur deutlich lesen, aber es heißt es auch, wie Spurgeon bemerkt:

"Herrliche Wahrheiten können langweilig erscheinen, wenn man sie eintönig vorträgt. Ein sehr geachteter Prediger, der aber nur vor sich hin zu murmeln pflegte, wurde treffend mit einer Hummel im Krug verglichen ... Wenn die Stimme quiekt wie eine rostige Schere, oder wenn die Worte ineinander fließen, als hätte der Redner Brei im Mund, so sind das Untugenden, die man sich unter allen Umständen abgewöhnen muss ... Die Evangelien haben nicht umsonst von unserem HERRN geschrieben: Er tat seinen Mund auf und lehrte sie. Öffnet die Tore weit, damit die edle Wahrheit heraustreten kann. Vermeidet es, die Nase zum Sprechwerkzeuge zu machen, denn die größten Autoritäten stimmen darin überein, dass sie zum Riechen da ist ... Sprecht immer hörbar. Manche Männer sprechen laut genug, aber nicht deutlich, ihre Worte stolpern und purzeln übereinander. Deutliche Aussprache ist wichtiger als ein starker Blasebalg. Gebt dem Wort Gelegenheit, ordentlich herauszukommen; brecht ihm nicht in der Heftigkeit das Genick, lasst es nicht in der Eile die Füße brechen. Es ist empörend, einen großen Menschen, dessen Lunge für die lautesten Töne ausreicht, murmeln und flüstern zu hören; andererseits mag ein Mann noch so lebhaft darauf los schreien, man versteht ihn nicht, wenn er die Worte ineinander fließen lässt. Zu langsames Reden ist schrecklich und kann lebhafte Zuhörer ganz nervös machen. Wer kann denn einen Redner anhören, der zwei Kilometer in der Stunde kriecht? Heute ein Wort und morgen eins ist ein Gebratenwerden auf langsamem Feuer, das nur für Märtyrer ein Genuss ist. Aber sehr schnelles Reden, ein Rennen, Rasen und Toben ist ebenso unverzeihlich. Es kann niemals Eindruck machen, außer vielleicht auf Schwachsinnige., denn anstatt eines geordneten Heers von Worten kommt ein Pöbelhaufe auf uns zu, und der Sinn wird vollständig in einem Meer von Tönen ersäuft ...".[10]

Also: Mut zum lauten Bibellesen. Manche Bibeltexte habe ich das erste Mal halbwegs verstanden, nachdem ich sie laut gelesen hatte.


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