Vorwort1. Mose 6,1-4: Als die Menschen immer zahlreicher wurden und sich auf der Erde ausbreiteten, 2 sahen die Gottessöhne, wie schön die Töchter der Menschen waren, und nahmen sich die zu Frauen, die ihnen gefielen. 3 Da sagte Jahwe: "Mein Geist soll nicht für immer in diesen sterblichen Menschen bleiben. Ich gebe ihnen noch eine Frist von 120 Jahren." 4 Damals lebten die Gewaltigen auf der Erde und auch später noch, als die Gottessöhne mit den Menschentöchtern verkehrten und ihnen Kinder geboren wurden. Das waren die hochberühmten Helden der Vorzeit.

Wir befinden uns zeitlich am Schluss der ersten Phase der Menschheitsgeschichte, die mit der Sintflut ihr Ende finden wird. Die Verse beschreiben zusammenfassend den geistlich-moralischen Zustand der gesamten Menschheit, die bereits nach Millionen zählte, vielleicht sogar schon die Milliardengrenze überschritten hatte.

Gottessöhne oder Göttersöhne

In dieser Zeit waren „Gottessöhne“ aufgetreten, die sich attraktive „Töchter der Menschen“ zu Frauen nahmen. Allerdings fragten sie nicht erst, sondern nahmen sich einfach die, „die ihnen gefielen“ zu Frauen und fügten sie ihrem Harem bei. Das erinnert an den Stolz und die Willkür von Lamech, dem Nachkommen Kains.

 Diese „Gottessöhne“ waren offenbar keine freundlichen Wesen. Aber wer waren sie überhaupt? Waren es mythologische Gestalten, wie man sie von alters her in den Mythen und Sagen der Völker findet, die dann irgendwie in die Bibel hineingekommen sind? Bibelkritische Theologen nehmen das gewöhnlich an.[1] Doch auch im bibeltreuen Lager gibt es drei unterschiedliche Erklärungen, denn in der Bibel kann der Begriff „Söhne Gottes“ sowohl Engel als auch Gotteskinder bedeuten.

1.      Es waren gefallene Engel, die sich mit Menschenfrauen einließen

Diese Deutung stützt sich vor allem auf Hiob 2,1. Dort tritt Satan unter den „Söhnen Gottes“ auf. Eine weitere Stütze wird in 2. Petrus 2,4-5 gesehen, wo von Engeln die Rede ist, die gegen Gott sündigten und nun im Gefängnis des Abgrunds verwahrt werden. Ein Ereignis, das offenbar vor der Sintflut geschehen ist, von der Petrus im nächsten Vers schreibt. Die dritte Stütze ist Judas 6-7, wo von Engeln die Rede ist, die ihren Platz verließen und nun im Abgrund auf ihr Gericht warten. Wie die Leute von Sodom und Gomorra waren sie hinter „fremdem Fleisch“ her.

Vertreter: Juden in den Apokryphen, John MacArthur, Arnold G. Fruchtenbaum, Charles C. Ryrie u.a.

Gegenargumente: Wie können geschlechtslose Geistwesen sich mit Menschen von Fleisch und Blut paaren? Jesus sagte, dass Engel nicht heiraten.[2] Wie hätten deren Nachkommen (angeblich die Riesen) die Sintflut überlebt, denn bei der Eroberung Kanaans existierten diese immer noch.[3] Vor allem aber: Weshalb sollten alle Menschen in der Sintflut für etwas bestraft werden, das Engel verschuldet haben?[4] Laut Petrus und Judasbrief werden die gefallenen Engel selbst bestraft. Und wenn gefallene Engel „hinter fremdem Fleisch her“ waren, könnte das auch bedeuten, dass sie Wohnung in Menschen nahmen.

2.      Es waren Nachkommen Sets, die Frauen von den Nachkommen Kains geheiratet haben

Man nimmt an, dass Satan die frommen Nachkommen Sets verleitet hätte, sich mit der gottlosen Linie der Nachkommen Kains zu verbinden. Durch diese Mischehen wurde das allgemeine Verderben eingeleitet.

Vertreter: Augustinus, Calvin, Luther, Warren W. Wiersbe, Hans Möller u.a.

Gegenargument: Es steht aber nicht da, dass diese Männer Frauen aus der Nachkommenschaft Kains geheiratet hätten, sondern ausdrücklich „Töchter der Menschen“. Außerdem passt dies nicht gut zu der im Text angedeuteten Gewalttätigkeit.

Ich halte die dritte Erklärung für die wahrscheinlichste.

3.      Es waren dämonisierte Gewaltherrscher, die sich willkürlich Frauen nahmen

Die „Söhne Gottes“ waren nicht von göttlicher Natur, sondern Menschen, die unter der Herrschaft von Dämonen standen. Es gab damals Gewaltherrscher, die sich Städte bauen ließen und den Lebensstil (Polygamie) und die Grausamkeit Lamechs nachahmten. Ihre Hybris überschritt jede Grenze, als sie anfingen, sich Göttersöhne zu nennen weil sie Umgang mit dämonischen Mächten hatten. Das ist in der Bibel vielfach bezeugt. Möglicherweise waren sie deshalb so mächtig, weil sie von gefallenen Engeln unter Kontrolle gehalten wurden [5] oder sogar besessen waren.[6]

Ihre Heirat mit den Frauen, die ihnen gerade gefielen und mit so vielen wie sie wollten, war offenbar der Ursprung der Harems.

Vertreter: Allan P. Ross in Walvoord/Zuck, Genfer Studienbibel u.a.

Wenn in der antiken Literatur Könige als göttlich oder halbgöttlich beschrieben werden, manchmal sogar als Nachkommen der Götter selbst, hat das seinen Ursprung in den Tatsachen, die hinter diesem biblischen Bericht stehen. Durch die zunächst mündlichen Überlieferungen veränderten sich die Inhalte allmählich, bis sie verschriftet wurden. So wird im Ugaritischen der Ausdruck „Göttersöhne“ für die Mitglieder ihrer gedachten Götterversammlung und für große Könige gebraucht. Auch später hielten sich Großkönige von den Pharaonen bis hin zu römischen Kaisern oft für Götter bzw. wurden dafür gehalten.

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[1] Der biblische Erzähler benutzt den Erzählstoff der Göttersagen (Stuttgarter Erklärungsbibel). Oder in ERKLÄRT S. 30: „Die kleine mythologische Szene vom Vereinen von Gottessöhnen mit Menschentöchtern wirkt ganz eigenartig, wie ein erratischer Block; dies gilt auch für die Folge davon, dass die altbekannten Riesen und Heroen der Urzeit geboren werden.“

[2] Matthäus 22,30.

[3] 4. Mose 13,31-33. Hier steht das gleiche Wort, das manche Übersetzer mit „Riesen“ wiedergeben, noch einmal.

[4] Carl Friedrich Keil: „Wie unvereinbar der Inhalt dieses Verses mit der Engelhypothese ist, das zeigen die Anstrengungen ihrer Verteidiger, ihn mit derselben in Einklang zu bringen.“

[5] Die Bibel spricht von Engelfürsten, die hinter politischen Einheiten stehen: Daniel 10,13.20; Hesekiel 28,11-15; Kolosser 1,16.

[6] 5Mo 32,16-17; Ps 106,35-37; 1Kor 10,20; Mk 5,1-15; 2Kor 12,7.

 

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