Keine Bibelübersetzung hat die Christenheit so beeinflusst, wie die Septuaginta. So heißen in allen europäischen Sprachen die ersten Menschen nicht Adâm und Chawwâ, sondern Adam und Eva.

Der Nachfolger Moses heißt nicht Jehoschua, sondern Josua, und die Propheten heißen nicht Jeschajahu und Jirmejahu, sondern Jesaja und Jeremia. Alle diese Namen sind also in der griechischen Form auf uns gekommen.

Die neutestamentlichen Verfasser übernahmen aus der Septuaginta auch Begriffe, die in der griechischen Sprache sonst nicht üblich waren, wie sabbatôn (Sabbat) oder pasa sarx (alles Fleisch). Solche Begriffe, die sonst nur von griechisch sprechenden Juden im Israel des 1. Jahrhunderts gebraucht wurden, sollten die Leser bewusst an alttestamentliche Formulierungen erinnern, die sie schon aus der Septuaginta kannten.

In den ersten Jahrzehnten der Gemeinde waren also die Schriftrollen der Septuaginta die einzige Bibel der nichtjüdischen Christen. Wegen dieser altertümlichen Überlieferungsmethode durch Schriftrollen ist nicht sicher, welche der apokryphen Schriften des Alten Testaments eine Gemeinde (oder Synagoge) besaß. Es gab ja keine Instanz, die den Umfang der Septuaginta festlegte.

Die Schriften, die wir heute zum Neuen Testament zählen, waren zunächst nur an bestimmte Gemeindegruppen, einzelne Gemeinden oder sogar Einzelpersonen gerichtet. Doch schon gegen Ende des ersten Jahrhunderts entstanden Schriftsammlungen mit den Paulusbriefen und den Evangelien. Spätestens in dieser Zeit[17] begann die Gemeinde, ihre Schriften auf einzelnen Blättern zu überliefern, die wie die heutigen Bücher an einer Seite zu Kodizes zusammengeheftet wurden. Diese moderne Form verwendeten die Christen auch, als sie es nicht mehr den Juden überließen, sondern selbst begannen, das Alte Testament der Septuaginta zu überliefern.

Die christlichen Abschriften der Septuaginta waren also einerseits durch die Verwendung des Kodex anstelle von Schriftrollen gekennzeichnet, andererseits, so wird angenommen, durch die Wiedergabe des Gottesnamens mit KYRIOS (Herr), während in den Rollen der Septuaginta, die Juden benutzten, der Gottesname mit JHWH (Jahwe) wiedergegeben wurde. Die christliche Septuaginta war besonders in Ägypten stark verbreitet.[18]

Die ältesten, heute noch vorhandenen Kodizes, die zumindest teilweise das Alte und das Neue Testament enthalten, sind der Vaticanus, der vielleicht schon zu den 50 Bibeln gehörte, die Kaiser Konstantin im Jahr 330 n.Chr. bei Eusebius von Cäsarea in Auftrag gab, der Sinaiticus aus dem 4. Jahrhundert, der Alexandrinus und der Codex Ephraemi, die beide aus dem 5. Jahrhundert stammen.

Vom griechischen Alten Testament sind uns mehr Manuskripte erhalten, als von jedem anderen antiken griechischen Text, außer dem Neuen Testament. Wenn man die vollständig erhaltenen Abschriften und die Fragmente zusammenzählt, kommt man etwa auf 2000 Handschriften.[19]

Im Gegensatz zum Neuen Testament finden wir bei den Kirchenvätern die Septuaginta mit den Apokryphen im allgemeinen Gebrauch. Erst allmählich verbreitete sich unter den Christen das Verständnis für den hebräischen Kanon, von dem doch die Septuaginta erst abstammt.

Als Beispiel für selbstlose Hingabe und weiblichen Heldenmut führt Klemens von Rom (um 96 n.Chr.) als geschichtliche Beispiele neben Ester auch Judit an.[20] Eine Aussage des Barnabasbriefs (um 130 n.Chr.) scheint auf Sirach zurückzugehen: „Sei nicht so, dass du deine Hand zum Nehmen ausstreckst, zum Geben sie aber zuhältst!“[21] Polykarp schreibt um 135 n.Chr. an die Gemeinde Philippi: „Wenn ihr Gutes tun könnt, schiebt es nicht auf, weil Almosen vom Tod befreit!“[22] Er nimmt also als Tatsache an, was das Buch Tobit behauptet: „Denn Almosen rettet vom Tod und lässt nicht in die Finsternis eingehen.“[23]

Irenäus (135-202 n.Chr.) zitiert „Worte des Propheten Daniel“ aus der Geschichte von Susanna.[24] Klemens von Alexandria (150-215 n.Chr.) zitiert häufig aus Sirach und zwar mit Formeln wie zum Beispiel: „Die Schrift, die göttliche Schrift, die Weisheit sagt.“ Hyppolyts (170-235 n.Chr.) Kommentar zu Daniel behandelt die Zusätze des griechischen Textes ebenso wie die des hebräischen Kanons. Offenbar haben die Christen der ersten Jahrhunderte keinen wesentlichen Unterschied zwischen apokryphen und kanonischen Schriften gemacht.[25]

Vereinzelt allerdings begegnet uns schon die Beschränkung auf den hebräischen Kanon, was im Lauf der Zeit immer deutlicher wird. So reist Bischof Melito von Sardes um 170 n.Chr. extra nach Palästina, um den Inhalt des hebräischen Alten Testaments zu untersuchen. Als kanonisch zählt der nur die Bücher des hebräischen Alten Testaments auf. Origenes (185-254 n.Chr.) vertrat und besaß einen Kanon ohne Apokryphen. Julius Afrikanus (170 bis nach 240 n.Chr.) übte deutlich Kritik an den griechischen Zusätzen zu dem Buch Daniel und wollte sie als unecht beseitigen.

Im vierten Jahrhundert haben wir dann eine ganze Reihe von Kanonverzeichnissen, die sich auf den Inhalt des hebräischen Kanon beschränken oder die Apokryphen als Schriften zweiter Ordnung einstufen. Das Konzil von Laodizea (um 360 n.Chr.) schließlich bestimmte den Kanon ohne die Apokryphen als den maßgeblichen Kanon des Alten Testaments. Ganz deutlich gegen die Apokryphen trat Hieronymus (347-419 n.Chr.) auf und nahm sie nicht in seine lateinische Übersetzung auf, die seit dem 13. Jahrhundert den Namen Vulgata, d.h. die allgemein verbreitete, erhielt. Erst nach Hieronymus wurden die griechischen apokryphen Texte als lateinische Übersetzung der Vulgata beigefügt.

Seit die Christen die Septuaginta verwendeten, entfremdeten sich die Juden immer mehr von ihr. Denn die Christen beriefen sich in ihren Disputationen mit den Juden immer auf Stellen in der Septuaginta, was die Juden aber nicht als beweiskräftig anerkennen konnten. Deshalb gab es auf Seiten der Juden eine neue griechische Übersetzung des Alten Testaments von einem gewissen Aquila und auf Seiten der Christen Revisionen der Septuaginta, die sich mehr dem hebräischen Text annäherten.

Um das Jahr 220 n. Chr. hielt Origenes (185-253 n. Chr.) es für nötig, eine Riesenarbeit in Angriff zu nehmen, die zuletzt 50 Bände mit 6000 Blättern umfasst haben soll. Er wollte den gebräuchlichen griechischen Text des Alten Testaments mit der von den Juden verwendeten hebräischen Textform in Übereinstimmung bringen. Dazu fertigte er in Cäsarea am Meer die sogenannte Hexapla an. In sechs parallelen Spalten wurde der Text des Alten Testaments in verschiedenen Übersetzungen neben dem hebräischen Text niedergeschrieben.

  • Spalte 1: Der hebräische Konsonantentext.[26]
  • Spalte 2: Der hebräische Text in griechischer Umschrift einschließlich der auszusprechenden Vokale (wahrscheinlich, um die Aussprache zu sichern).
  • Spalte 3: Die sehr wörtliche (konkordante) Übersetzung des Juden Aquila. Streckenweise kaum lesbar (ähnlich wie die Dabhar-Übersetzung heute). Aquila schreckte vor den ärgsten Verstößen gegen die griechische Sprache nicht zurück. Trotzdem fand seine Übersetzung in den Synagogen der Juden bis ins 6. Jahrhundert eine breite Verwendung, weil sie einerseits nicht mehr Hebräisch konnten und andererseits die Septuaginta nicht mehr verwenden wollten, weil dies die Bibel der Christen geworden war.
  • Spalte 4: Die Übersetzung des Juden[27] Symmachus, die sich um ein akzeptables Griechisch bemüht.
  • Spalte 5: Die sorgfältigen Verbesserungen des Origenes an der Septuaginta, die er aber nur als Anmerkungen einfügte. Den ursprünglichen Text selbst tastete er nicht an. Dieser Text, aber mit den eingearbeiteten Anmerkungen, entwickelte sich bald zum autoritativen Standardtext der Kirchen des Ostens.
  • Spalte 6: Die Version des Theodotion, der im späten zweiten Jahrhundert in Ephesus lebte und zum Judentum übergetreten sei, war eine Überarbeitung eines älteren griechischen Bibeltextes.
  • Von dem Riesenwerk, an dem Origenes 30 Jahre gearbeitet hat, sind heute nur noch Fragmente erhalten.

 

Schon der jüdische Philosoph Philo von Alexandria (15 v.Chr. bis 40 n.Chr.) glaubte, dass die griechische Übersetzung genauso göttlich inspiriert war wie das hebräische Alte Testament selbst.[28]

Aber auch viele Christen der ersten drei Jahrhunderte waren damals überzeugt, die Übersetzer der Septuaginta hätten „die heilbringende Erscheinung unseres großen Gottes und Heilandes Jesus Christus als künftig eintretend vorausgesehen“[29] Manche Christen meinten sogar, die Wörtlichkeit des hebräischen Bibeltextes verberge das Evangelium von Jesus Christus. Also nur die Septuaginta sei das wahre Alte Testament.[30]

Origenes war von der Inspiration der Septuaginta überzeugt. Die Autorität der Kirche würde dafür bürgen, dass sich keine unechten Schriften eindrängen. Was in den Gemeinden unbezweifelt als Heilige Schrift in Gebrauch ist, hat göttliche Autorität[31]

Bis ins 3. Jahrhundert war die Kirchen­sprache in Rom Griechisch.[32] Man konnte die Abschriften der biblischen Texte also noch lesen. Doch vor allem in den westlichen Teilen des Römischen Reiches entstanden schon seit dem 2. Jahrhundert altlateinischen Übersetzungen. In der wachsenden Christenheit des Westens in Südgallien und Nordafrika, wo zum größten Teil Latein gesprochen wurde, war das Bedürfnis entstanden, Übersetzungen der Septuaginta in Latein für den Gottesdienst und das persönliche Bibellesen zu besitzen. 40 solcher Handschriften sind uns bis heute überliefert.

Doch wegen der großen Verschiedenheit der umlaufenden Texte beauftragte Papst Damasus im Jahr 382 den sprachkundigsten Bibelgelehrten des Abend­lands, Hieronymus, mit der Herstellung eines einheitlichen Textes. Im 13. Jahrhundert erhielt dieser dann den Namen Vulgata, d.h. die allgemein verbreitete.

Hieronymus begann mit den Evangelien, wo er an 3500 Stellen die ihm vorliegenden Texte verbesserte. Von 386 n.Chr. an lebte er in Beth­lehem. Er hatte in Caesarea die Hexapla des Origenes eingesehen und für seine Arbeit verwendet. Zunächst bearbeitete er die neutestamentlichen Bücher. Ab 390 arbeitete er dann am Alten Testament. Zunächst vereinheitlichte er die Psalmen nach einem griechischen Text, ging dann aber dazu über, alle Texte neu direkt aus dem Hebräischen zu übersetzen. 23 Jahre bis 405 arbeitet er an der Übersetzung. Sie setzte sich aber erst seit dem 9. Jahrhundert durch.

So, wie es Hieronymus am Anfang seiner Arbeit machte, taten es damals und noch Jahrhunderte später viele: Sie übersetzten das Alte Testament in andere Sprachen. Als Quelle benutzten sie aber nicht das hebräische Alte Testament, sondern die Septuaginta. So war Syrisch Jahrhunderte lang die Sprache für einen großen Teil der Christenheit. Zwischen 613 und 617 n.Chr. wurde die fünfte Spalte der Hexapla des Origenes, die sogenannte Quinta, ins Syrische übersetzt (Syro-Hexapla).[33] Übersetzungen der Septuaginta ins Koptische sind im sahidischen und bohairischen Dialekt erhalten geblieben.[34] Weiterhin wurde die Septuaginta ins Arabische, Äthiopische, Armenische, Slawische, Georgische und Gotische übersetzt.[35]

Augustinus (354-430 n.Chr.) stellte sich gegen die Vulgata und forderte den ausschließlichen Gebrauch der Septuaginta. Er sah sie als einzig inspirierte Bibelübersetzung an. Sie würde ja seit der Zeit der Apostel tradiert.[36] Darum nahm er die Übersetzungslegende der griechischen Bibel auf und modifizierte sie. Er wollte ihre unbedingte Autorität als göttliche Schrift begründen.[37] Er zählte auch die Apokryphen mitten unter den Schriften des hebräischen Kanon als kanonisch auf.[38]

Die Septuaginta und nicht der hebräische Text war die Bibel, die von den frühen Kirchenvätern und den Konzilien verwendet wurden. Gerade als es um die Lehre der Trinität und die Natur unseres Herrn ging, verwendete man das griechische Alte Testament. So nahm zum Beispiel Sprüche 8,22-31 einen wichtigen Platz in den Diskussionen um die Natur unseres Herrn und seine Stellung in der Trinität ein. So argumentierte Arius (260-336 n.Chr.) auf der Grundlage der griechischen Übersetzung von Sprüche 8, dass der Sohn geschaffen sein musste und nicht ewig neben dem Vater existierte. Bestimmte Unterschiede zwischen dem Hebräischen und Griechischen stützten die Argumentation des Arius.

Der Text der Septuaginta war das Wort Gottes für die Kirche in den ersten drei Jahrhunderten. Die griechisch-orthodoxe Kirche, die russisch-orthodoxe und die syrisch-orthodoxe betrachten den griechischen Text als ihre Bibel und ziehen sie in Bezug auf das Alte Testament bis heute dem hebräischen Text vor, obwohl das derzeit von ihren Gelehrten diskutiert wird.

Gewiss bleibt das hebräische Alte Testament die beste Grundlage für unsere modernen Übersetzungen, doch sollten wir nicht vergessen, dass die Septuaginta die Bibel der frühen Christen in den ersten drei Jahrhunderten, ja dass sie sogar die Bibel der Apostel war. ?

Für wertvolle sprachliche und sachliche Hinweise bedanke ich mich herzlich bei Peter Streitenberger aus Ingolstadt, Carsten Ziegert aus dem Tschad, Dr. Heinrich von Siebenthal von der FTH Gießen.

Zuerst veröffentlicht in „Bibel und Gemeinde“ 2/2010 S. 31-44
und als Sonderdruck des Bibelbundes Nr. 0021.

-------------- Fußnoten --------------

[17] Nach C.P. Thiede begann das schon nach dem Tod des Jakobus 62 n.Chr.

[18] Martin Hegel, Die Septuaginta zwischen Judentum und Christentum. Tübingen 1994.

[19] Jobes/Silva S. 20.

[20] 1. Klemens 55,4-6.

[21] Barnabas 19,9 = Sirach 4,31.

[22] Polykarp an die Philipper 10,2.

[23] Tobit 4,10; ähnlich 12,9.

[24] Justin gegen die Häresien IV 26,3; vgl. Susanna V. 52 (in anderen Bibeln Dan 13,52).

[25] Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, Leipzig 1896, Bd. 1 S. 626.

[26] Erst 600 Jahre später (um 800 n.Chr.) haben die so genannten Masoreten angefangen, diesen Text mit Vokalzeichen zu versehen.

[27] Manche nehmen an, es sei ein ebionitischer Judenchrist gewesen, der diese Übersetzung um das Jahr 170 n.Chr. schuf.

[28] Jobes/Silva S. 36.

[29] Tilly S. 114.

[30] Ähnliche Argumente kennen wir für die Verteidigung der nichtrevidierten Elberfelder Übersetzung.

[31] Sierszyn, 2000 Jahre Kirchengeschichte. Band 1. Holzgerlingen 2000. S. 178.

[32] In Nordafrika war Griechisch noch bis ins 5. Jahrhundert Kirchensprache und in Byzanz blieb sie es.

[33] Das sollte nicht verwechselt werden mit der sogenannten Peschitta (syrisch: die Einfache), die schon im zweiten Jahrhundert aus dem Hebräischen ins Syrische übersetzt wurde.

[34] Das sind wichtige Zeugen für den frühen griechischen Text, der in Ägypten verwendet wurde.

[35] Jobes/Silva S. 67.

[36] Tilly S. 98.

[37] Tilly S. 110.

[38] Realencyklopädie S. 627.

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