Lukas berichtet von der Arbeit des Paulus und Silas in Beröa:

Als die beiden dort angekommen waren, suchten sie als Erstes wieder die Synagoge auf. Die Juden in Beröa aber waren unvoreingenommener als die in Thessalonich. Sie nahmen die Botschaft bereitwillig auf und studierten täglich die Heiligen Schriften, um zu sehen, ob das, was Paulus lehrte, wirklich zutraf. Viele von ihnen kamen daraufhin zum Glauben, auch nicht wenige prominente griechische Frauen und Männer. (Apg 17,10-12)

Die Juden in Beröa untersuchten also die Heiligen Schriften, um die Botschaft des Paulus zu überprüfen. Dazu mussten sie in die Synagoge kommen, weil nur dort die Schriftrollen aufbewahrt wurden. Ob die Synagoge dort eine hebräisch geschriebene Torarolle besaß, ist nicht sicher. Auf jeden Fall aber besaß sie Schriftrollen mit der griechischen Übersetzung der einzelnen alttestamentlichen Bücher, die auch von Proselyten verstanden werden konnten, die sich der Synagoge angeschlossen hatten.

In allen Synagogen der Diaspora gab es in neutestamentlicher Zeit eine aus mehreren Schriftrollen bestehende Septuaginta, an deren Kenntnis die Apostel in ihrer Mission anknüpfen konnten. Viele ihrer alttestamentlichen Zitate stammten direkt aus der LXX, was sich auch in ihren Schriften niederschlägt und manchmal sogar zu kleinen Bedeutungsunterschieden in Bezug auf den hebräischen Text führen kann, wie er uns von den Masoreten überliefert wurde.

Jes 1,9 MT: Hätte Jahwe Zebaoth uns nicht einen ganz kleinen Rest gelassen, wie Sodom wären wir, Gomorra wären wir gleich.

Jes 1,9 LXX: Und wenn der Herr Sabaoth uns nicht einen Samen (= Nachkommenschaft) übrig gelassen hätte, wären wir wie Sodom und wären wir Gomorra gleich geworden.

Röm 9,29: Und wie Jesaja vorher gesagt hat: „Wenn nicht der Herr Zebaoth uns Nachkommenschaft (= Samen) übrig gelassen hätte, so wären wir wie Sodom geworden und Gomorra gleich geworden.“

Das „ganz klein“ ist in der LXX und dem NT weggelassen. Aus dem „Rest“ wird Same (Nachkommenschaft). Der Sinn wurde dadurch nicht geändert, denn der Same ist durchaus ein Bild für etwas sehr Kleines. Der Text aus dem Römerbrief beweist aber, dass Paulus aus der LXX zitierte. Auch Jakobus und Petrus zitieren aus der LXX:

Spr 3,34 MT: Den Spöttern gegenüber spottet er, den Demütigen aber gibt er Gnade.

Spr 3,34 LXX: Der Herr widersteht den Hochmütigen, den Demütigen aber gibt er Gnade.

Jak 4,6: Deshalb spricht er: „Gott widersteht den Hochmütigen, den Demütigen aber gibt er Gnade.“

1Petr 5,5: „Denn Gott widersteht den Hochmütigen, den Demütigen aber gibt er Gnade.“

Nicht immer ist es in unseren Übersetzungen so deutlich zu erkennen, wo die Apostel aus der LXX zitieren. Das liegt einmal daran, dass die Übersetzung der Septuaginta sich manchmal sehr eng an den Wortlaut des Hebräischen hält. Höchstens die Wortreihenfolge und einige unwesentliche Dinge sind verändert, was man aber nur durch exakten Vergleich der griechischen Handschriften mit dem hebräischen Text erkennen kann. Daraus ergibt sich nach Archer/Chirichigno[15] folgendes:

  • 268 Zitate im Neuen Testament geben uns einen LXX-Text wieder, der sich sehr eng an den Wortlaut des Hebräischen hält.
  • 50 Zitate zeigen einen Text, bei denen sich die Autoren sehr eng den Wortlaut der LXX halten, die LXX jedoch vom überlieferten hebräischen Wortlaut abweicht, d.h. wo sie ziemlich frei übersetzt. Diese freie Übersetzung ist also an 50 Stellen als inspirierter Text ins Neue Testament hineingekommen.
  • 33 Zitate geben einen Text wieder, bei denen sich die Autoren des Neuen Testaments enger an den MT des AT halten als an die LXX.
  • 22 Zitate zeigen einen Text, bei denen sich die Autoren ziemlich eng an die Lesart der LXX halten, obwohl diese vom MT abweicht.
  • 13 Zitate machen den Eindruck, sich große Freiheiten gegenüber dem alttestamentlichen Text herauszunehmen, wenn man sie in ihrem ursprünglichen Zusammenhang betrachtet. Dennoch kann man in jedem Fall zeigen, dass der jeweilige Autor unter der Leitung des Geistes Gottes einen verbindlichen Kommentar zur Botschaft und Lehre des Alten Testaments abgibt, und zwar ohne den Originaltext auseinanderzureißen oder zu verdrehen.

Fazit:

Es gibt also nur 33 Zitate im Neuen Testament, bei denen sich die Autoren auf den hebräischen Wortlaut gestützt haben. Fast immer also zitierten alle Autoren des Neuen Testaments unter der Leitung des Heiligen Geistes aus den Schriftrollen der Septuaginta, und zwar auch dann, wenn diese nahezu wörtlich mit dem MT übereinstimmte. Und sie zitierten die Septuaginta als Heilige Schrift mit den üblichen Zitationsformeln wie zum Beispiel: die Schriften (Mt 21,42), dass die Schrift erfüllt würde (Jo 19,24), die Schrift sagt (Rö 10,11), der Heilige Geist sagte durch den Mund Davids (Apg 1,16-20) o.ä.

Alle inspirierten Autoren verwendeten die Septuaginta also genauso wie wir heute, wenn wir einen Schriftbeweis führen und dazu etwa die Elberfelder Übersetzung benutzen. Die meisten – wenn nicht sogar alle – Autoren des Neuen Testaments konnten zwar die hebräische Bibel lesen und Aramäisch sprechen, aber eben auch das Griechisch der Septuaginta.

Auffällig ist allerdings, dass das Matthäusevangelium und der Hebräerbrief, die das Alte Testament besonders häufig zitieren, dies oft (aber nicht immer) in einer Form tun, die enger am hebräischen Wortlaut ist, als die Septuaginta. Das ist verständlich, denn ihre ursprünglichen Leser hatte ja Zugang zum hebräischen Alten Testament.

Die meisten Menschen in der jüdischen Diaspora konnten das Griechisch des Neuen Testaments ohne Weiteres verstehen. Durch die Predigten der Apostel, die sich auf die Septuaginta als Heilige Schrift stützten, wurden auch die bekehrten Nichtjuden an diese Schrift als Autorität verwiesen.

Bemerkenswert ist allerdings, dass keiner der neutestamentlichen Autoren etwas aus den oben erwähnten apokryphen Texten der Septuaginta zitiert, denn dass sie diese kannten, steht außer Frage.[16]

-------------- Fußnoten --------------

[15] Gleason L. Archer/Gregory Chirichigno, Old Testament Quotations in the New Testament. Eugene, Oregon 1983.

[16] Es wird immer wieder behauptet, dass sich zahlreiche Zitate aus den Apokryphen im Neuen Testament finden würden. Tilly (S. 23) gibt als Beispiele für Zitate und Bezugnahmen an: Mk 10,19 vgl. Sirach 4,1; Mt 9,36 vgl. Judit 11,19; 2Tim 2,19 vgl. Sirach 17,26. Wenn man aber die Texte vergleicht, findet man kein einziges Zitat, sondern allenfalls Anklänge, die höchstens zeigen würden, dass die neutestamentlichen Verfasser die Apokryphen kannten. Es ist nicht einmal eindeutig beweisbar, dass sie ihre Formulierungen aus den apokryphen Schriften genommen hätten. Im Gegensatz zu den Kirchenvätern haben sie die Apokryphen nie direkt, oder gar als Heilige Schrift, zitiert.

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