ThomasevangeliumWarum ist diese Schrift nicht im Neuen Testament enthalten?

Das sogenannte Thomasevangelium besteht aus einer Sammlung von 114 Jesus zugeschriebenen Sprüchen beziehungsweise kurzen Szenen und Dialogen, die mit einem „Jesuswort“ enden. Diese Logien stehen unverbunden nebeneinander. Eine durchgehende Ordnung ist nicht erkennbar.

Im Gegensatz zu den Evangelien des Neuen Testaments handelt es sich auch nicht um einen zusammenhängenden Bericht. Vor allem fehlt die für die Evangelien wesentliche Leidens- und Auferstehungsgeschichte völlig. Einige Logien ähneln zwar einzelnen Aussagen aus den Evangelien, andere aber eher gnostischen Texten, also Irrlehren, vor denen das Neue Testament warnt.

Die Entdeckung

Vor 1945 war das Thomasevangelium praktisch unbekannt. Erst in diesem Jahr fand man in Nag Hammadi in Ägypten 13 Papyrus-Codizes, darunter die nahezu vollständige koptische Übersetzung der 114 Logien. Diese Übersetzung aus dem Griechischen entstand etwa um das Jahr 350 n.Chr. Als Unterschrift trug sie: Evangelium nach Thomas (Bild). Durch diesen Fund konnte man nun endlich einzelne Papyrus-Fragmente in griechischer Sprache, die man von 1897 bis 1903 in Ägypten gefunden hatte, dem Thomasevangelium zuordnen.

Die Entstehung

In der Zeit der Alten Kirche war das Thomasevangelium bis Anfang des dritten Jahrhunderts unbekannt. Selbst Irenäus von Lyon, Tertullian und Clemens von Alexandria erwähnten es nicht, obwohl sie sich mit vielen christlichen Strömungen auseinandersetzten und deren Schriften erwähnten.

Erst um das Jahr 233 n. Chr. erwähnte es Origenes, und zwar kritisch. Er zählte es zu den Evangelien, die vom eigentlichen abweichen. Eusebius von Caesarea rechnete ein Jahrhundert später das Thomasevangelium zu den Apokryphen. Kyrill von Jerusalem und andere griechische Autoren nach ihm erwähnen ein „Evangelium nach Thomas“ als eine von den Manichäern (Irrlehrern) benutzte Schrift.

Der Verfasser der 114 Logien nennt sich Didymos Judas Thomas. Solch ein Name ist im Neuen Testament aber unbekannt. Es gibt zwar verschiedene Thomasse und auch einen mit dem Beinamen Didymus und verschiedene Judasse und auch einen, der ein Bruder von Jesus war, aber keinen Didymos Judas Thomas. Wann und wo diese Texte entstanden sind, ist umstritten. Es könnte sein, dass sie um die Mitte des 2. Jahrhunderts in Syrien aufgeschrieben wurden.

Welche Schriften wurden anerkannt

Wir haben keinen einzigen Beleg dafür, dass das sogenannte Thomasevangelium jemals als heilige Schrift anerkannt worden ist, ganz im Gegensatz zu den neutestamentlichen Schriften. Sie entstanden alle noch vor dem Ende des ersten Jahrhunderts. Es gab aber schon in dieser Zeit auch andere Schriften (z.B. die Didache oder den ersten Klemensbrief), die von den christlichen Gemeinden hoch geachtet wurden. Im zweiten Jahrhundert und später entstanden noch wesentlich mehr christliche Schriften, von denen manche Namen trugen, die auch im Neuen Testament vorkommen, zum Beispiel die Apokalypse des Petrus. Diese konnten genauso wenig wie etwa die Paulusakten von den Aposteln stammen. Manche davon wurden eine Zeitlang in Gemeinden vorgelesen, später aber aussortiert.

Es handelte sich bei der Anerkennung der heiligen Schriften des Neuen Testaments also hauptsächlich um einen Ausleseprozess, der insgesamt etwa 250 Jahre dauerte. Die Anerkennung der heiligen Schriften wurde nie von einem Konzil oder einer Kirchenleitung bestimmt, sondern vollzog sich unmerklich in den Gemeinden. Nur dreimal wurden in dieser ganzen Zeit Listen von Büchern veröffentlicht, die göttliche Autorität haben, die sogenannten Kanonlisten, die untereinander aber nicht übereinstimmten. Abgesehen von den Kanonlisten können uns vor allem die Zitate des Neuen Testaments, die sich in den Schriften der Kirchenväter finden, Aufschluss über die Anerkennung der heiligen Schriften geben. Wenn man dies mit der gebotenen Vorsicht statistisch untersucht, tritt Überraschendes zutage.

Die neutestamentlichen Schriften

Kein einziges Buch wurde deshalb kanonisch, weil Menschen es in den Kanon aufgenommen haben. Vielmehr war es genau umgekehrt: Die inspirierten Schriften besaßen von vornherein göttliche Autorität. Die Menschen haben dies nur erkannt und anerkannt. Einige Fakten:[ 1 ]Die folgenden Zitate stammen aus Karl-Heinz Vanheiden, Näher am Original, Witten/Dillenburg 2014.

  1. Alle Bücher, die schon im 2. Jahrhundert intensiv gebraucht und zitiert wurden, gehören auch unserem heutigen Neuen Testament an und machen den allergrößten Teil davon aus. Es wurde also sehr schnell ein hohes Maß an Übereinstimmung unter den Gemeinden offenbar.
  2. Die Gemeinden legten eine passive und demütige Haltung an den Tag und fällten keine eigenwilligen Urteile über bestimmte Bücher, bei denen sie unsicher waren, ob sie zum Kanon gehören oder nicht.
  3. Im Vergleich zum 2. Jahrhundert findet sich im 3. Jahrhundert eine bemerkenswerte Kontinuität in der Verwendung der neutestamentlichen Schriften.

Die Sammlung der neutestamentlichen Schriften ist eine Geschichte ohne alle Revolutionen; das Wesentliche ist von Beginn an gegeben, die geringfügigen Änderungen geschehen so allmählich, dass sie niemandem auffallen.

Es ist für uns allerdings sehr schwierig, die Kriterien anzugeben, nach denen die Gemeinden entschieden haben, eine Schrift als kanonisch anzusehen oder nicht. Wir können es nur aus gewissen Indizien schließen.

  1. Gewiss war es ein notwendiges, aber noch nicht hinreichendes Kriterium, dass die Schrift von einem Apostel verfasst oder von ihm beglaubigt worden war. Das könnte der Grund gewesen sein, weshalb manche Gemeinden zum Beispiel beim Hebräerbrief wegen der Anonymität des Verfassers mit der Anerkennung zögerten oder beim 2. Petrusbrief wegen des Verdachts einer Fälschung.
  2. Das Kriterium der Autorität. Die Tatsache, dass man bei bestimmten Büchern zögerte, sie anzuerkennen, weist darauf hin, dass man nicht leichtfertig irgendwelche Schriften für kanonisch erklärte, sondern mit Sorgfalt und Unterscheidungsvermögen zu Werke ging. Denn nicht allein der Anspruch einer Schrift, Autorität zu haben, macht sie schon zu einer Autorität, sondern erst der Erweis der geistlichen Kraft (Hebr 4,12), die sich dann auch in der freiwilligen allgemeinen Anerkennung ausdrückte.
  3. Das Kriterium der historischen und dogmatischen Genauigkeit. Das hat wahrscheinlich beim Jakobusbrief eine Rolle gespielt, bis man verstand, dass seine Lehre nicht im Widerspruch zu der des Paulus stand. Der Judasbrief wurde wegen seiner Zitate aus nicht autorisierten Schriften nicht überall sofort anerkannt. Andererseits sorgte dieses Kriterium dafür, dass viele apokryphe Schriften und solche mit falscher Verfasserangabe (Pseudepigrafen) zu Recht als nicht kanonisch verworfen wurden.

Bemerkenswert ist außerdem, dass es wegen der Kanonfrage nie einen Bannfluch oder Federkrieg unter den Gläubigen gab (obwohl dies in anderen Fragen sehr häufig der Fall war), und andererseits, dass die Gemeinden davor bewahrt wurden, Schriften aufzunehmen, die abweichende Lehren enthielten, wie sie damals schon aufgetaucht waren.

Der Schwebezustand, der jeder Gemeinde die Freiheit gab, selbst zu entscheiden, welche der Schriften sie für kanonisch hielt oder nicht, endete praktisch im Jahre 367 n.Chr. mit dem 39. Osterbrief des Bischofs von Alexandrien, Athanasius. Er schrieb:

Dies sind die Quellen des Heils … gebt nicht zu, dass jemand von ihnen wegnehme oder hinzufüge.

Diese Liste, die genau unserer heutigen entspricht, wurde später auch von verschiedenen Synoden anerkannt.

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